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Andächtige Geschichte: Agenda 2010?



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 2003-12-21 23:40
#13618 #13618
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Es ist Montag, der 3. Juni 2010, 5 Uhr morgens. Der Radiowecker reißt Klaus S (46) aus dem Schlag. Der Oldie-Sender Spielt Modern-Talking. Klaus S. quält sich aus dem Bett. Gestern ist es etwas später geworden - bei der Arbeit. Dienst am Pfingstsonntag - mal wieder. Früher konnte er danach wenigstens ausschlafen. "ja ja, der Pfingst montag", murmelt Herr S., "ist das wirklich schon sechs Jahre her?" Es hat sich wirklich einiges getan seit damals. Nur nicht in meinem Haus. Als 2005 die Eigenheimzulage plötzlich doch gestrichen wurde, mussten sie beim weiteren Ausbau Abstriche machen. Inzwischen hat sich Familie S. daran gewöhnt. An die frei liegenden Leitungen und den Betonfussboden. Gut - denkt Klaus S., dass damals die Garage noch nicht fertig war. Denn der Wagen ist längst verkauft. Zu teuer, seites keine Kilometerpauschale mehr gibt - und mit Bus und Bahn dauert es in die City ja auch nur zwei Stunden.
Und was man dabei fr nette Leute trifft. Zum Beispiel die Blondine, die Klaus S. immer so reizend anlächelt. Zurücklächeln mag er nicht. Wegen seiner Zähne. Aber was will man machen? 3000 Euro für zwei Kronen sind viel Geld. Und schon die Brille musste er selbst bezahlen. Hat dabei aber 15 Euro gespart, weil er nicht gleich zum Augen-, sondern erst zum Hausarzt gegangen ist, wegen der Überweisung. Trotzdem: Der Urlaub fällt flach. "Das könnte Ärger geben zu Hause", stöhnt Herr S. vor sich hin.
Traurig erinnert er sich an letzte Weihnachten. Als es nichts gab. 2009 wurde nämlich auch in der freien Wirtschaft das Weihnachtsgeld gestrichen. Im öffentlichen Dienst ist das ja schon länger her.
"Und bis wann gab es eigentlich Urlaubsgeld?", fragt sich Klaus S. - er kommt nicht drauf. Damals hatte man jedenfalls noch genügend Urlaub, um das Urlaubsgeld auszugeben. Heute sind es ja gerade 19 Tage im Jahr. Pfingstmontag? 1. Mai? Geschichte. Das stand nicht auf der Agenda 2010 - so hieß sie doch oder? Aber man soll nicht meckern. Die da oben, weiß Herr S., müssen noch viel mehr ackern. Darum kann Klaus S. mit der 45-Stunden-Woche auch ganz gut leben. Er hat auch keine Wahl. Seit der Kündigungsschutz auch in großen Betrieben gelockert wurde, man man es sich mit den Bossen nicht mehr verscherzen. Wer will sich schon einreihen in das Heer von sieben Millionen Arbeitslosen? Aber den Feiertagszuschlag für den Dienst an Pfingsten vermisst er schon. Aber was soll's, in 23 Jahren - dann wird der 70 - hat Klaus S. es hinter sich. So üppig wird die Rente zwar nicht ausfallen, wenn das mit den Nullrunden so weitergeht.
Doch wer weiss, vielleicht bringt ihn das Rauchen vorher um. Obwohl er weniger qualmt, seit die Schachtel neun Euro kostet. Aber heute, auf den letzten Metern zum Büro, steckt Klaus S. sich trotzdem eine an. Und denkt dabei kurz nach, ob es ihm nicht besser ginge, wenn er in jungen Jahren etwas auf die Seite gelegt hätte statt alles auf den Kopf zu hauen. Nun ist es zu spät, denn mit seinem Einkommen kommt er gerade so über die Runden. Sparen? - wovon denn noch?

Eine fiktive Geschichte, über die wir zu Weihnachten 2003 noch herzlich lachen können.

Quelle: Bad Königer Blättchen 51/52

Ich find die Geschichte gut erzählt und gar nicht so weit her geholt.

Gruß Alex
renee
 2003-12-22 00:57
#13619 #13619
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wobei sich viele über die wirkliche (betriebswirtschaftlich und volkswirtschaftlich) Bedeutung der Subventionen (Kilometerpauschale und Eigenheimzulage) nicht so ganz im Klaren sind...

Außerdem soll man die Hoffnung nicht aufgeben. Vielleicht kommt ja jetzt wirklich das "Reformdeutschland" im "alten Europa" ;)
OTRS-Erweiterungen (http://feature-addons.de/)
Frankfurt Perlmongers (http://frankfurt.pm/)
--

Unterlagen OTRS-Workshop 2012: http://otrs.perl-services.de/workshop.html
Perl-Entwicklung: http://perl-services.de/
Shagreen
 2003-12-22 12:01
#13620 #13620
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[quote=renee,21.12.2003, 23:57]...
Außerdem soll man die Hoffnung nicht aufgeben. Vielleicht kommt ja jetzt wirklich das "Reformdeutschland" im "alten Europa" ;)[/quote]
Wer glaubt, wir würden bedürfnisorientiert produzieren
wer glaubt, den Reichtum der Nation bilden Gebrauchswerte
wer glaubt, Demokratie und Kapitalismus sind nicht vereinbar
wer glaubt, die Probleme wären rein deutscher Natur
der glaubt auch an den Weihnachtsmann.

Passend zur anstehenden Bescherung:
Erich Kästner: Weihnachtslied, chemisch gereinigt
Anachronistische Lagerankunft
jan
 2003-12-22 14:23
#13621 #13621
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sparen, wovon denn? naja, im durchschnitt haben wir immer noch eine sparquote von 10%, d.h. jeder zehnte euro einnahme wird gespart. das bringt natürlich probleme mit sich in einem system, das vom konsum lebt. sparten die leute nicht, würde konsumiert, würde investiert, gäbe es einen aufschwung. tja, psychologie der einfachsten art und alles hängt daran...
aber bei einem privatvermögen des deutschen volkes von 3.5 billionen euro denke ich, steht der durchschnitt nicht ganz so schlecht dar.
weniger dogmatismus, mehr arbeit im kopflabor. dann gefällt mir die kritik auch richtig gut!
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